Dr. Bärbel Sunderbrink – Stadtarchiv Detmold – Riga, 6.6.2024
Gedenken im Rahmen der Delegationsreise des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Wald von
Biekernieki
Sehr geehrte Frau Regierungspräsidentin Bölling, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Gedenkfeier,
ich begrüße Sie herzlich auch im Namen der Stadt Detmold!
Seit 2023 ist Detmold Mitglied des Riga-Komitees. Der Rat der Stadt hat einstimmig beschlossen, dem vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge getragenen Städtebund beizutreten. Dies geschah auf Anregung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe.
Mit dem Beitritt rückt die erste Deportation Detmolder Juden – die erste Deportation aus dem heutigen Regierungsbezirk Detmold überhaupt – ins Bewusstsein. Die Abreise im Winter 1941 glich nach außen zunächst keinem Gewaltakt. Vielmehr hatte die Riga-Deportation auch für die Betroffenen den Anschein einer Umsiedlung. Außer Kleidung und Bettzeug sollte man Handwerkszeug mitnehmen. Diese Aufforderung suggerierte, dass man in Riga eine neue wirtschaftliche Existenz aufbauen könne. Es war klar, dass die Ausweisung nicht harmlos war, aber wir wissen aus letzten Briefen, dass die Menschen in der Illusion einer gesicherten Zukunft lebten.
Am Nachmittag des 10. Dezember 1941 trafen 26 jüdische Frauen, Männer und Kinder aus Lippe im Sammellager in Bielefeld ein. Direkt aus Detmold kamen das Ehepaar Valk mit ihren zwei Töchtern und das Ehepaar Steinweg.
Im „Kyffhäuser“, einer Traditionsgaststätte am Bielefelder Kesselbrink, trafen die Detmolder auf Bekannte und frühere Nachbarn: auf die nach Bielefeld verzogene Familie Buchholz und Schüler:innen, die die jüdische Schule in der Gartenstraße besucht hatten. Unter ihnen war Ilse Uhlmann, ein Mädchen von zehn Jahren aus dem Dorf Ovenhausen. Das Haus ihrer Kindheit steht heute im Detmolder Freilichtmuseum.
Im großen Saal des Kyffhäusers waren 420 Personen aus Lippe, Schaumburg-Lippe und dem Regierungsbezirk Minden für drei Tage zusammengepfercht. Vor den Eingängen waren Gestapo-Posten aufgestellt. Männer in schwarzen Ledermänteln. Das Gebäude durfte nicht mehr verlassen werden.
Statt ihrer Papiere erhielten die Menschen nun Transportnummern. Die aus Minden stammende Edith Blau, die die Shoa überlebt hat, erinnerte sich später: „Jetzt sind wir nichts mehr, jetzt sind wir keine Persönlichkeit mehr, jetzt haben wir keinen Namen mehr.“
Es gibt nur sehr wenige Fotografien von Deportationen. Selten wurde eine Deportation so genau dokumentiert wie der Riga-Transport aus Bielefeld. Eine Bilderserie gibt eine Ahnung von den letzten Tagen der Detmolder Juden in ihrer Heimat.
Am Nachmittag des 13. November lief ein Sonderzug im Bahnhof ein. Er war bereits mit einigen hundert Personen aus Münster und Osnabrück besetzt. Drei Waggons waren für die Menschen aus Ostwestfalen-Lippe vorgehängt worden. Schwer bepackt liefen die Frauen, Männer und Kinder zu den ihnen zugewiesenen Plätzen. Vom Bahnsteig gegenüber sahen die Reisenden, die dort auf ihre Züge warteten, dem Geschehen zu. Für jeden war an den Davidsternen zu erkennen, dass es Juden waren, die ihre Heimat verlassen mussten. Der Sicherheitsdienst SD registrierte, dass es innerhalb der Bevölkerung für diese Aktion nicht nur Zustimmung gab. Kirchliche Kreise äußerten Kritik, nach außen drang davon jedoch nichts durch.
Am späten Nachmittag des 13. November verließ der Zug mit 1031 Menschen den Bielefelder Bahnhof in eine ungewisse Zukunft.
Bielefeld ist der Kipppunkt! Von nun an waren die Betroffenen Gefangene, die ihrem Schicksal unausweichlich ausgesetzt waren. Und: Bis hier her können wir ihre Lebenswege nachzeichnen. Was nun folgt, entzieht sich zum großen Teil unserer historischen Erkenntnisse, aber auch unserer Vorstellungskraft. Nur 106 Menschen überlebten diese Riga-Deportation – aus Detmold war niemand dabei.
Aus Lippe war es nur Günter Wallhausen. Er kam nicht in seine Heimatstadt Bad Salzuflen zurück. Über Schweden zog er nach Australien. Anders Artur und Berta Sachs, die nach Bielefeld zurückkehrten, eine Textilfirma aufbauten und sich in der jüdischen Gemeinde engagierten. Ich selbst bin dem beeindruckenden Zeitzeugen Artur Sachs als junge Archivarin begegnet – und damit zur Zweitzeugin geworden: Er hat über seine Funktion im jüdischen Ordnungsdienst berichtet, der den Deportationszug verlassen durfte, um Wasser zu holen. Und vor allem vom
Arbeitslager Salaspils, das sich in seine Erinnerung als Mördergrube eingebrannt hatte.
Meine Damen und Herren,
als Historikerin ist es meine Aufgabe, Fakten zu sammeln, zu bewerten und zu vermitteln. Doch wie wird man den Opfern gerecht? Reicht es, die Daten von Lebensgeschichten zu rekonstruieren, um sie dem Vergessen zu entreißen? Unsere Erinnerungsarbeit reicht oft nur bis zur Abfahrt der Deportationszüge. Über das entmenschlichte Dasein jenseits der Bahnstrecke kennen wir kaum Fakten. Die furchtbaren Erlebnisse bleiben daher schemenhaft.
Mit dem Beitritt der Stadt Detmold zum Riga-Komitee sind die Opfer der Riga-Deportation stärker in den Blick gerückt. Anlässlich der feierlichen Aufnahme hat das Stadtarchiv Detmold eine Ausstellung erarbeitet, die im Rathaus und inzwischen auch in mehreren Schulen zu sehen war.
Eine sehr aktive Gruppe der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hat Stolpersteine verlegt und ehemalige Schülerinnen des Grabbe-Gymnasiums haben am Sommercamp des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Riga teilgenommen. Erste Schritte sind also gemacht, aber reicht das?
Es muss unser Anliegen sein, Detmold und Riga gedanklich weiter zusammenzubringen und zu vermitteln, dass die deutsche Verfolgungsgeschichte nicht am Bielefelder Bahnhof endete, sondern in Riga ihre grausame Fortführung erfuhr. Wie die Unterlagen der Archive sind auch historische Orte Quellen, die „gelesen“ werden können. Sie können eine Vorstellungskraft davon vermitteln, was den Menschen nach der Abfahrt ihres Deportationszuges widerfahren ist, davon, wie sie entmenschlicht und ermordet wurden.
Ich wünsche mir, dass mehr Menschen aus Detmold sich ganz konkret mit den Schicksalen der ersten Deportierten von 1941 auseinandersetzen. Dazu gehört auch, dass wir mehr Menschen hierher an die historischen Orte bringen. In die Bielefelder Straße im Ghetto, wo es den Versuch gab, trotz der menschenunwürdigen Zustände menschenwürdig zu leben; in die Gedenkstätte in Salaspils, wo nachweislich junge Männer aus der Region OWL innerhalb kürzester Zeit an den grausamen Lebensumständen zu Tode gekommen sind; und an diesen Ort der
Massenerschießungen – diese Gedenkstätte mit den Namenssteinen, die zeigen, wie sehr Riga und Westfalen in der Geschichte der Shoa miteinander verbunden sind.