Am 15 Juli 2021 erreicht mich eine völlig unerwartete Einladung:
Dear members of the Fechenbach familiy!
Liebe Angehörige der großen Familie Fechenbach!
«...
Wir, die Familie Henneken, kennen die Geschichte der Fechenbachs und sind sehr
bewegt von dem Schicksal von Felix und dem Mut und der Stärke von Irma. Deshalb
möchten wir die Spuren, die die Fechenbachs in diesem Haus hinterlassen haben,
wieder sichtbar machen und ebenso einen Beitrag zur Erinnerung und zum Gedenken
an ihr Leben und Schicksal leisten.
Wir freuen uns daher Ihnen mitteilen zu können, dass wir planen, eine Gedenktafel für
die Familie Fechenbach vor dem Haus in der Oesterhausstraße 6 in Detmold zu
errichten.»
Ich bin angeschrieben worden als Enkel von Irma und Felix Fechenbach Epstein. Die
‘grosse Familie‘ ist geschrumpft, einzig Hanni als jüngstes Kind lebt noch in den USA, Ihr
Mann, wie auch die beiden andern Kinder und ihre jeweiligen Partner sind verstorben.
Alle die sechs Enkel sind gealtert, sind längst älter wie damals Felix Fechenbach
[28.1.1894 - 7.8.1931] war, als er im erwähnten Haus lebte. Die zwölf Urenkel sind in
etwa dem Alter vom damals 37-jährigen Mann, der getötet wurde:
«wie es die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift formulierte, 'aus Hass der
Nationalsozialisten gegen ihn als Juden und politischen Gegner‘.»
Wir Enkel und Urenkel lernten unseren Grossvater und Urgrossvater nie kennen, Was
wir wissen haben wir aus Büchern erfahren, an Erzählungen habe ich keine
Erinnerungen.
Irma Fechenbach ist in unser Leben eingetreten, meine Erlebnisse sind sehr ambivalent.
In welcher Zeit lebt denn die tatsächlich nicht mehr grosse Familie Fechenbach heute?
Die Kenntnis von Mensch und Zeit in den seither drei Generationen geht verloren.
Was für ein Mensch war Felix Fechenbach, der am 8.10.1929 am Detmolder Volksblatt
seinen Arbeitsbeginn hatte. Zu selber Zeit noch riet er der Arbeiterjugend, 'sie sollten
sich einen geistigen Führer wählen und diesem folgen und forderte sie auf, erst einmal
mitzuarbeiten ehe sie kritisierten’ [nach Hermann Schueler: Auf der Flucht erschossen,
1981].
Was wissen wir von Felix Fechenbach?
Was von seiner Familie?
Seine zweite Ehe mit Irma Epstein, der Krankenschwester.und staatlich geprüften
Wohlfahrtspflegerin, der Tochter von Rechtsanwalt und Justizrat Dr. Emil Epstein und
dessen Frau Elsa geb. Hochstädter wurde am 26.9.1926 geschlossen.
In Berlin kamen am 19.5.1927 Kurt und am 16.9.1928 Lotti, in Detmold am 11.1.1931 Hanni
zur Welt.
«Er erhoffte sich von einem neuen, frohen Geschlecht die Verwirklichung des
Sozialismus. Er hat für eine glückliche Menschheit gekämpft und sein Leben hingegeben
im Glauben an das Gute.»
[Victor Walther]
Wer also wohnte im Hause an Oesterhausstraße 6 in Detmold?
An wen erinnert die Gedenktafel vor dem Hause?
Wer soll sich davon angesprochen fühlen und welche Impulse
soll sie setzen?
«Alltag im Exil zu dokumentieren, bedeutet für die Betroffenen,
auch mit Erinnerungen konfrontiert zu werden, die schmerzlich
sind, und es braucht Mut, sich diesen emotionalen Anforderungen
zu stellen.»
[aus: Ingrid Schäfer - Irma Fechenbach-Fey, 2003]
Ich sehe in dieser Zeit, als mich die Einladung nach Detmold
erreicht, den Film 'Fabian oder der Gang vor die Hunde‘ von
Dominik Graf. Beeindruckt von der Aktualität lese ich darauf Erich
Kästners Roman - 'Fabian, die Geschichte eines Moralisten',
Erstausgabe 1931.
Eben diese Geschichte diente Dominik Graf heute, 90 Jahre
später, als Vorlage.
1933 wurde Kästners Buch als entartet taxiert; Erich Kästner
selbst war anwesend bei der Verbrennung seiner Bücher: Für die
Erstausgabe zensurierte der Lektor Kästners Titel, er wurde jetzt
erst von Graf im Original verwendet 'der Gang vor die Hunde'.
Im Vorwort zur Ausgabe von 1956 schreibt Kästner 25 Jahre
später:
«Alte Mächte sind am Werk wiederum standardisierte
Meinungen durch Massenimpfung zu verbreiten.» —
Welch merkwürdiger Doppelsinn verbindet sich gerade heute mit
diesem Zitat und welche 'standardisierten Meinungen’ könnten
denn schon damals gemeint sein?
Er schreibt von verstaatlichten Geschmacksurteilen und, ich
zitiere:
«Noch wissen viele nicht, viele nicht mehr, dass man sich
Urteile selber bilden kann und sollte. Soweit sie sich darum
bemühen, wissen sie nicht, wie man’s anfängt.»
Ändern sollten wir uns alle, doch es sollten immer zuerst die
andern damit beginnen.
In seinem ‘Fabian’ wollte er warnen: «die Sturmzeichen der
nahenden Krise fehlten nicht, die unheimliche Stille vor dem
Sturm, die einer epidemischen Lähmung gleichende Trägheit
der Herzen.»
«Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa
näherten. Er wollte mit angemessenen, und das konnte in diesem Falle nur bedeuten,
mit allen Mitteln in letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen.»
Kästner hält seiner Epoche einen Zerrspiegel vor:
«Der angestammte Platz des Moralisten ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er,
so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch hiess immer und heisst auch jetzt: Dennoch!»
War Felix Fechenbach also ein Moralist?
Diese Frage beschäftigt mich immer wieder und ich überprüfe
sie auch an einer weiteren Aussage von Kästner, wie er im
‘Fabian’ den Journalismus charakterisiert:
«Was wir hinzudichten ist nicht so schlimm wie das, was wir
weglassen.»
Was also lassen wir in der Lebensbeschreibung von Felix
Fechenbach weg?
Ist er für seine Überzeugung eingetreten mit dem privaten
Preis, sich und seine Familie damit zu opfern? Wie hat er die
Verantwortung für Frau und Kinder gewichtet?
Er ist als Jude, Pazifist und Sozialist verfolgt worden. Praktizierender Jude war er nicht.
Und noch einmal zitiere ich Kästner, er sagt:
«Wer für die andern da sein will, der muss sich selber fremd bleiben.»
Gilt dies auch für Felix Fechenbach, wie distanziert reflektierte er sein Einstehen für das
politische Ideal?
Kritik an Entscheidungen meines Grossvaters sind mir fern, gross ist meine
Bewunderung für dessen Mut.
Doch in ihrer Würdigung erwähnen sie auch den Mut und die Stärke von Irma
Fechenbach.
Wenn wir heute der beiden Menschen gedenken und ihnen eine Tafel widmen, sie am
Hause anbringen, wo sie zwei Jahre gelebt haben, müssen wir doch ihr Leben während
dieser Zeit ebenso mutig befragen.
Gedenktafel wozu?
Hermann Schüler charakterisiert Felix Fechenbach's Lebensmotive:
- sozialer Humanist
- 'Überzeugungstreue' [S. 190]
- Pazifist
- legitimiert, die Herrschaftsverhältnisse umzustürzen
- widersetzt sich der Rückkehr der alten Kräfte
- arbeitet mit journalistischen Mitteln
- oberste Erfordernis ist ihm die Einheit der Arbeiterbewegung
- wichtig ist eine funktionierende Demokratie
- Ablehnung des Kommunismus
- eine eminent politische Begabung
- überlegene Einsicht in die Entstehung des Nationalsozialismus
- Nationalsozialismus in Steigbügelhalterrolle für den Kapitalismus
- erkennt die Unmenschlichkeit der Nazis und wird zugleich eines seiner ersten Opfer
- Demokratie und Republik sind seine politischen Werte, sogar Sozialismus muss zweitrangig bleiben
- kannte die Gefahren des Antisemitismus, empfand die jüdische Geschichte seiner unterdrückten Vorfahren
- die Integration der jüdischen Bevölkerung war ihm selbstverständliche Voraussetzung
- Charaktereigenschaften:
- Ehrlichkeit in den persönlichen Beziehungen
- Hilfsbereitschaft
- Zartgefühl
- Milde
- im politischen Kampf setzte er sich für die Verwirklichung höchster sittlicher Ziele ein
[Ein Leben aus einem Guss, S. 249 - 251]
MUT?
«Wir müssen Freiheit und wenn es sein muss das Leben für diese bürgerliche Republik
einsetzen. Das ist meine feste Überzeugung. Und nach ihr habe ich gehandelt.»
[im Gefängnis Stadelheim, 1922 ; H.Schüler S. 178]
«Es geht jetzt um den Bestand oder den Untergang des deutschen Volkes. Es fehlt an
brauchbaren fähigen Leuten, die am Neuaufbau mithelfen. Jeder, der sich dazu fähig
fühlt, muss seine Kraft zur Verfügung stellen. Versuche doch zu begreifen, welch hohe
sittliche Idee mich leitet.»
[Brief Felix Fechenbach an seine Verlobte Martha Czernichowski, 1918; H. Schüler S. 60]
GEDENK - 'TAFEL'
Wer trifft sich denn an dieser Tafel?
Wessen Gedenken ist es denn?
Was verbindet denn die sich hier Getroffenen?
Ich habe die Biografien zu diesem Anlass erneut gelesen von Irma Epstein-Fechenbach
(Ingrid Schäfer) und Felix Fechenbach (Hermann Schüler).
Welche Themen sind es, die da je einzeln auftauchen, welche, die sie beide verbinden?
Welche Verantwortungen haben sie geteilt?
Welche Wertungen haben sie gleich hoch gehalten?
Welche Bedeutung hatte die Familie, die gemeinsamen Kinder, welche die politische
Überzeugung?
Zu was fühlten sie sich verpflichtet?
Welche Kontinuität war ihnen wichtig?
Welche Abwägungen hatten sie getroffen? Hatten sie solche Gedanken überhaupt
erwogen?
Zu selber Zeit wie Grafs Film erscheint Bernhard Schlinks erstes
Theaterstück, ein Gedankenspiel zum Tyrannenmord.
Bernhard Schlink: ’20. Juli. Ein Zeitstück'.
Die fünf Abiturienten und Abiturientinnen haben sich geschworen,
keine 'kleinen Brötchen zu backen’, im Leben 'muss mehr drin sein
als Studium und Beruf und Familie‘, es muss etwas geben, 'wofür
sich lohnt, aufs Ganze zu gehen‘.
«Wir wollen was bewirken.»
Und wieder taucht ein Fabian auf, der Journalist werden will.
Eingangsfrage:
Gibt es Verhältnisse, die Gewalt legitimieren?
Ist es erlaubt, jemanden zu töten, wenn man damit das Leben anderer retten kann?
Umgeschrieben:
Gibt es Verhältnisse, die es legitimieren, sich Gewalt antun zu lassen?
Ist es erlaubt, sich töten zu lassen, wenn man damit das Leben anderer retten kann?
«Die Frage ist, ob der Umstand, dass jemand mit dem Leben bezahlt, den Wert dessen
beweist, wofür er mit dem Leben bezahlt.»
«Es geht beim Opfer des Lebens nicht um einen Beweis, eher um eine Beglaubigung.
Die Beglaubigung, dass der aufrechte Gang, die moralische Integrität, die menschliche
Würde wichtiger sind als alles andere.»
«Es geht zuerst um den Verstand, dann um das Gewissen, dann um die Angst. Nur
wenn der Verstand sagt, dass es sein muss, kann das Gewissen es ertragen und der Mut
die Angst überwinden.»
Lassen sich Täter und Opfer vertauschen? -> Felix Fechenbach [aufs Ganze zu gehen?]
«Es geht immer um die Aufgabe und die Person und die richtige Person für die richtige
Aufgabe.»
Stimmt es, dass «nach ein paar Jahrzehnten Demokratie wieder ein paar autoritäre
Jahrzehnte dran sind?»
Ist die Forderung heute «aufrichtiger und verbindlicher» zu sein?
«Nicht nur zuhören und zusehen und reden, sondern sich entscheiden und handeln.»
«Entscheidungen schaffen Abstand. Zwischen dem Denken und dem Handeln. Wenn
du entscheidest, ist mit dem Denken Schluss und fängt mit dem Handeln was Neues
an.»
- Überlassen wir die Veränderungen den andern, den Mächtigen, den Reichen, den
Gierigen?
- Leben wir, als hätten die Dinge von selbst Bestand, die Institutionen, das Recht, die
Freiheit?
- Es geht doch nicht darum, was gestern versäumt worden ist, sondern was es heute zu
machen gilt.
- «Wir müssen doch die Welt machen, in der wir unseren Platz finden können.»
- Müssen wir stark und böse werden, um nicht mit unserer Feigheit zu leben?
Was wird einmal auf unserer 'Gedenktafel' stehen?
Mit welchem Lebensmut sind wir den Fragen, die uns das Leben gestellt hat, begegnet?
Was erwarte ich vom Leben? Und was erwartet das Leben von mir?
Erfülle ich meine eigenen Erwartungen oder die von anderen?
«Was erwarte ich von meiner Lebenserwartung? »
« Viktor Frankl - der österreichische Neurologe und Psychiater, der Begründer der
Logotherapie und Existenzanalyse, der seine Erlebnisse und Erfahrungen in vier
verschiedenen Konzentrationslagern, darunter Auschwitz, in seinem Buch '... trotzdem
Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager' schildert - hat das
Wort ‘Verantwortung’ immer an die Fragen geknüpft, die uns das Leben stellt. Und wir
geben mit unserem Tun die Antwort darauf, auch mit unserem Lassen. »
[Eckart von Hirschhausen]
Wir sind aufgefordert diejenigen Fragen an uns zu stellen, deren Antworten in den
Entscheidungen, die wir treffen, unsere Verantwortung, die wir bereit sind zu
übernehmen, zeigt.
Mit diesen Fragen an mich und an uns alle bedanke ich mich ganz herzlich für die
grossherzige Einladung zu dieser 'Besuchswoche’. Keine Begegnungen sind Zufall,
so verstehe ich dieses Gedenken als mutvolles Aufeinander-Zugehen. Ich freue
mich Teil davon sein zu dürfen.
Rede von Balz Wiederkehr am 10. 11. 2021 in der Oesterhausstrasse, Detmold